Die jüdische Sonderschule für Gehörlose und Sprachbehinderte im DP-Camp Geretsried
„Im Lager Geretsried haben wir ein interessantes Experiment in Angriff genommen“, notierte eine Mitarbeiterin der Jewish Relief Unit unter dem Betreff „Stottererschule“. „Jüdische DPs, die bedingt durch Kriegshandlungen oder ihren Aufenthalt in den Konzentrationslagern unter Artikulationsproblemen leiden“, erhalten ab Mai 1947 dort eine spezielle Förderung und therapeutische Behandlung.
Diese einzigartige Bildungseinrichtung stand nicht nur jüdischen Überlebenden mit Sprechproblemen offen, sondern auch sogenannten Taubstummen, also Menschen, die von Geburt an gehörlos waren. Die Sonderschule für „Taubstumme und Stotterer“ befand sich in einer „schönen modernen Holzbaracke“, am Rande des DP-Lagers Geretsried, „direkt im Walde gelegen inmitten herrlicher Kiefernbäume“.
Als die Kurse begannen, besuchten 18 Stotterer und acht Taubstumme den von Lehrer Isaak Szmulewicz geleiteten Unterricht. In einem Report aus der Anfangszeit der Schule berichtete er: „Zu bemerken ist noch, dass die Stotterer fast zu 60 Prozent ihr Leiden oder Sprachfehler durch den Krieg erhalten haben. Bei ihnen dauert die vollständige Heilung ca. fünf bis sechs Monate, nach welcher Zeit wir eine vollständige Ausheilung garantieren.“ Bei Menschen, die aufgrund einer Traumatisierung die Sprache völlig verloren hatten, glaubte Szmulewicz, dass eine Heilung innerhalb von zwei Jahren denkbar wäre. Nach seiner Ansicht müsste es auch möglich sein, dass die „vollständig Taubstummen innerhalb von zwei Jahren“ die Gebärdensprache erlernen könnten.
Der Unterricht und die Übungen fanden täglich, außer am Schabbat, von neun bis zwölf Uhr und zwischen 13.00 und 19.00 Uhr statt. Trotz des großen Engagements von Isaak Szmulewicz hatten die Schule mit vielen Problemen zu kämpfen: Es fehlte an Büchern, Personal, einem adäquaten Konzept und an Materialien. Wie einem Report aus dem Februar 1948 zu entnehmen ist, war das Unterrichtsniveau nicht angemessen und der Berichterstatter forderte umgehend Fachpersonal sowie entsprechende Fortbildungsmaßnahmen für den einzigen Lehrer Isaak Szmulewicz, dem gleichwohl eine hervorragende Arbeit bescheinigt wurde.
Die Schule bestand bis zum Juli 1948. In knapp einem Jahr hatten 36 Schüler im Alter zwischen sieben und 30 Jahren den Unterricht besucht.
Das jüdische DP-Lager Geretsried war im März 1947 in der ehemaligen Fabrikarbeitersiedlung des Rüstungswerkes Geretsried für neu ankommende Juden aus den österreichischen Auffanglagern eingerichtet worden. Es bestand drei Jahre und beherbergte bis zu 800 DPs. Im März 1950 wurde das Lager geschlossen, die letzten Bewohner nach Föhrenwald verlegt.
Im 10. Jahrbuch des Nürnberger Instituts nurinst 2020 ist dazu ein wissenschaftlicher Aufsatz mit dem Titel „Die jüdische Sonderschule für Gehörlose und Sprachbehinderte im DP-Camp Geretsried 1947-1948“ erschienen.