Martin Vogel

Martin Vogel
Martin Vogel 2006 auf der Windischhütte bei Wien, Foto: Peter Roggenthin

wurde 1922 im 3. Bezirk in Wien geboren. Beide Eltern waren Ortsansässige, seine Mutter arbeitete als Modistin, das weibliche Pendant zum Hutmacher, und sein Vater als Handelsangestellter. Die Mutter war Katholikin und ebenso schwach religiös wie der jüdische Vater, der auch ein führender Kopf der sozialdemokratischen Bewegung Wiens war. Deshalb begingen sie zwar alle Feiertage, maßen aber sonst dem Judentum keine Bedeutung bei. Daher war der Begriff Zionismus auch etwas völlig Unbekanntes für Martin. Er ging in die Volksschule und besuchte anschließend die Mittelschule. Während dieser Zeit trat er dem interkonfessionellen Österreichischen Pfadfinderbund bei. Dieser Verband erwies sich als sehr nützlich für ihn. Denn sein Vater wurde arbeitslos und Martin konnte wiederholt umsonst in Ferienlager fahren; soziale Gerechtigkeit war bei diesen Pfadfindern ein wichtiges Ziel. Martin Vogel trat auch der linkszionistischen Organisation Haschomer Hazair bei, und landete daneben auch mit Speerwurf und Langstreckenlauf beim Schulsport.

Mitglieder von Haschomer Hazair waren in Wien unter den ersten Juden, die damals legal nach Palästina einwanderten. Martin Vogel wurde dann Madrich, Leiter einer Jugendgruppe, die sich auf eine Auswanderung nach Palästina vorbereitete.

„Den ‚Anschluss‘ Österreichs habe ich eigentlich überhaupt nicht bewusst wahrgenommen. Ich erinnere mich nur, mit eigenen Augen gesehen zu haben, wie sich auf einmal Polizisten Hakenkreuz-Armbinden über ihre Uniformen streiften. Auch sah ich einen Wagen, an dem hinten eine österreicherische Fahne hing, mit einem Eisenstück beschwert. Die Fahne wurde also durch den Dreck geschleift. Am berüchtigten 9. November 1938, der Pogromnacht geschah Folgendes: Die Pfadfinder hatten ein Heim für Veranstaltungen im 2. Bezirk. Ich sollte dort ab und zu nach dem Rechten sehen. Am 10. November bin ich also nichts ahnend dort hingelaufen; es war für Juden bereits üblich, immer nur in den Seitengassen zu gehen. Ich kam bei der Brücke an und mir fiel auf, dass fast keine Leute auf der Straße waren und alle Haustore und Fenster versperrt waren. Ich bemerkte Brandgeruch und ging weiter bis zur Tempelgasse, wo ich sah, dass aus der riesigen Rosette des Tempels Flammen herausschlugen. Ich rannte näher hin und schaute fassungslos auf die Flammen, ohne auf meine Umgebung zu achten. Plötzlich hörte ich hinter mir jemanden schreien: ‚Da fällt was runter, gehen Sie weg!‘ Hinter mir standen eine junge Frau und ein Mann, keine Juden, die sich in ein Haustor hinein gepresst hatten. Ich bin weggerannt und auf einen fahrenden Straßenbahnzug gesprungen und anschließend nach Hause gelaufen. Meine Eltern waren nicht daheim und ich sperrte mich in die Wohnung ein. Auf einmal hörte ich schwere Schritte, Nazis. Unter uns wohnten zwei sehr nette Frauen, die demonstrativ laut gegen unsere Tür klopften, bis eine der beiden schrie ‚Da ist niemand zu Hause!‘, und so sind die Nazis wieder gegangen. Später am Abend kam dann mein Vater in Begleitung von zwei alten Sozialisten, die er von früher kannte und die ihn beschützt hatten.“

Nach dem „Anschluss“ wurden die nicht verbotenen jüdischen Gruppen zu einer zionistischen Dachorganisation, dem Hechaluz, zusammengeschlossen. Deren Funktionär Aron Menczer war nach Ansicht Martin Vogels einer der größten damaligen österreichischen Persönlichkeiten. Menczers ganze Familie, die religiös eingestellt war, emigrierte 1938 mit Ausnahme von ihm selbst legal nach Palästina. Er begleitete dann einen Jugendtransport dorthin. Seine Familie wollte natürlich, dass er blieb. Daraufhin sagte er den berühmten Satz: „Solange es noch ein unversorgtes Kind in Wien gibt, ist mein Platz in Wien!“ und kehrte zurück. Er wurde 1943 ermordet. 1938/39 war es mit dem Hechaluz auch noch möglich, Ausflüge in den Wiener Wald oder an die alte Donau zu machen. Es wurde empfohlen, nicht als geschlossene Gruppe zu gehen, um möglichst wenig aufzufallen. Einmal machten sie einen Ausflug nach Weidlingbach, bei dem Martin die Gruppe führte. Dort kam ein Gendarm auf sie zu, der sie schon eine geraume Zeit beobachtet hatte und brüllte, wer der Leiter wäre. Als Martin Vogel sich meldete, bekam er sofort ein paar Ohrfeigen und seine Jugendgruppe musste strammstehen. Die Zwangsauflösung der Gruppe 1940 war sehr tragisch für die Halbwüchsigen. Der Leiter wurde nach Theresienstadt verschleppt, wo er ein paar „seiner“ Schützlinge wiedertraf. Eines Tages sagte man zu ihnen, sie würden jetzt in die Schweiz fahren; tatsächlich wurden sie jedoch nach Auschwitz verbracht und vergast. Ein Freund Martins und er selbst verfassten auf Bitte von Aron Menczer einen Bericht über ihre zionistischen Aktivitäten und die Auflösung der Gruppe. Dieser Bericht für die Nachwelt wurde dann auf dem Zentralfriedhof vergraben. Das war gefährlich, da sich Juden nicht am Friedhof aufhalten durften und dieser bewacht wurde.

„Im September 1941 suchte die deutsche Wehrmacht Arbeitskräfte. Das war für uns sehr nützlich, da man etwas verdienen konnte und außerdem scheinbar sicher vor Deportationen war. Mein Vater und ich meldeten uns. Es war im 2. Bezirk. Dort wurde im Ersatzpflegemagazin der Deutschen Wehrmacht Leergut gesammelt und Lebensmittel gelagert. Die Lebensmittel wurden der Marine und der Waffen-SS gebracht. Als die Deportationen begannen, sind nur wenige, unter anderem wir, übrig geblieben. Was ursprünglich eine freiwillige Meldung war, wurde später aber in ein Zwangsarbeitsverhältnis umgewandelt. Eigentlich sind wir von den Soldaten sehr anständig behandelt worden. Es gab jedoch auch Zivilarbeiter dort, die uns getreten und geprügelt haben. Das passierte jedoch nur, wenn die Soldaten nicht in der Nähe waren. Das ist mir selber einmal passiert! Als die Fliegerangriffe begonnen hatten, wurden die Telefonleitungen unterbrochen, weshalb immer ein Fahrrad zur Verfügung stand, um Nachrichten weiterleiten zu können. Das Fahrrad befand sich im Aufenthaltsraum der ‚arischen‘ Arbeiter. Im Radio kam als Zeichen immer ‚Kuckuck‘, wenn ein Fliegerangriff bevor stand. In dem Moment, in dem das Signal ertönte, musste die Dienststelle völlig geräumt werden. Einer von uns musste dann immer in den Belegschaftsraum hineingehen und das Fahrrad überprüfen, ob es fahrfähig ist. Als einmal ich an der Reihe war, begann ein Arbeiter wüst zu schimpfen. Ich versuchte das Fahrrad aufzupumpen und er riss mir die Pumpe aus der Hand und prügelte mit aller Gewalt auf meinen Kopf ein. Ich rannte hinaus und er mir hinterher, als uns der Dienststellenleiter entgegenkam. Der sagte: ‚Ich dulde nicht, dass auf meiner Dienststelle jemand geschlagen wird!‘ Der Arbeiter ist sofort verschwunden und der Dienststellenleiter sagte mir, ich solle mich in eine der Baracken setzen, und wenn ich mich beruhigt habe, solle ich weiterarbeiten. Dieses Erlebnis machte damals einen großen Eindruck auf mich!“

Da die Juden weniger Lebensmittel als die anderen Arbeiter bekamen, klauten diese immer etwas von den Lebensmitteln, die sie lagerten. Eines Tages wurde jemand hierbei erwischt, kam sofort nach Auschwitz, überlebte jedoch. Martin Vogel und seine Kollegen mussten damals auch Kartons mit Fleischkonserven verladen. Diese waren mit messerscharfen Stahlbändern verschlossen. Martin schnitt sich heftig und wurde ins Unfallkrankenhaus in der Webergasse geschickt. Dort gab es eine Unterteilung in „Arier“, den westlichen Kriegsgefangenen und den Juden, Polen und Zigeunern. Martin wurde verarztet und sollte nach drei Wochen noch einmal zu einer Kontrolluntersuchung kommen. Damals hieß er für alle Martin Israel Vogel, da mit der Einführung des Judensterns alle jüdischen Frauen den Beinamen Sarah und alle Männer den Beinamen Israel tragen mussten. Plötzlich wurde der Name „Martin Vogel“ aufgerufen. Er rührte sich nicht, da das fehlende „Israel“ ihm so vorkam, als würde er keinen Stern tragen. Erst nachdem er nochmals aufgerufen worden war, begab sich Martin beunruhigt zum Behandlungszimmer. Der Arzt fragte: „Herr Vogel, wieso kommen Sie denn nicht?“ Er erklärte sein Verhalten und entschuldigte sich. Darauf meinte der Arzt: „Bei uns sind alle gleich!“ Dies war für Martin Vogel damals kaum begreifbar. An seinem Arbeitsplatz wurde auch immer Heu und Stroh für Wehrmachtspferde gelagert, eine sehr schwere Arbeit, da die Ballen 80 kg wogen. Zum Transport der Strohhaufen zu den Zügen wurden zunächst benzingetriebene Autos eingesetzt, dann war jedoch kein Benzin mehr vorhanden und deshalb wurden die Autos mit Holz betrieben. Schließlich mussten  Pferde die Strohladungen ziehen. Ein Soldat gab Martin Vogel häufig etwas zu Essen, wobei er gut aufpassen musste, dass niemand dies mitbekam, weil es für ihn eine erhebliche Gefährdung darstellte. Eines Tages entnahm der Soldat seiner Brieftasche drei Schwarzweißbilder, die er selber gemacht hatte. Auf dem ersten Bild war ein Pfosten zu sehen, an dem Menschen hingen, auf dem zweiten Bild war eine Grube, in der nackte Menschen lagen und auf dem dritten Bild standen nackte Menschen vor einer Grube und hinter ihnen Menschen in Uniformen und Pistolen. Der Soldat sagte: „Das machen sie mit euch in Polen! Aber darüber darfst du nichts sagen!“ Das war das erste Mal, dass Martin konkret erfuhr, wovon vorher nur gemunkelt wurde.

„Ich benutze nicht oft das Wort ‚Wunder’, aber dass ich überlebt habe, war ein Wunder! Ich sage oft, dass mich meine Mutter zweimal geboren hat, das zweite Mal, als sie mir und meinem Vater das Leben gerettet hat, indem sie ihre Wohnung aufgab. Denn wir kamen dann in eine andere Wohnung im 2. Bezirk und als der Kampf in Wien begann, wohnten wir  heimlich im Keller. Im April 1945 kam eines Tages ein riesiger SS-Mann mit einem umgehängten Maschinengewehr zu uns herunter und mein Vater, meine Mutter und ich standen in der Kellertür. Mein Vater war ein kleiner Mann, der sehr jüdisch aussah, ich war damals 23 Jahre alt und wir beide rissen uns erst mal schnell den Stern herunter. Der Mann stand dort und fragte meine Mutter, ob er etwas zu trinken haben könnte. Nachdem sie ihm etwas gegeben hatte, ging er weg. Man muss wissen, dass in unserem Haus nur hochrangige Nazis gewohnt haben. Mein Vater sagte dann zu mir: ‚Hier können wir nicht bleiben!‘ Er sagte, wir sollten aufs Dach gehen. Doch durch die Fliegerangriffe waren die Dächer zerstört und so saßen wir am Dachboden und immer wieder fiel etwas herunter, zum Beispiel ein Stück von einer Granate oder Fliegerbombe. Es war klar, dass es dort zu gefährlich war, also gingen wir zurück in die Kellerwohnung und legten uns unters Bett. Am Tag des Geburtstages meiner Mutter, dem 12. April 1945, schlich ich mich durch ein Loch aus dem Keller. Da stand plötzlich ein kleiner russischer Soldat, ein Mongole, vor mir. Er hatte ein Gewehr, das größer als er selbst war, was sehr ulkig wirkte! Als er mich sah, richtete er das Gewehr auf mich. Das war eine fürchterliche Situation! Unser Nachbar hatte aber damals eine russische Hilfskraft und irgendwie kam sie durch Zufall vorbei, als der Soldat vor mir stand. Sie hat ihm dann auf Russisch gesagt, wer ich bin und er nahm das Gewehr herunter und sagte nur ‚Karacho‘ (gut) und ging.“

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Martin Vogel (1. v. r.) Ende der 1940er Jahre bei einem Wettkampf in Basel (Foto/Repro: Vogel/nurinst-archiv)

1945 verschaffte ein ehemaliger Arbeitskollege von der Lehrgutstelle Martin Vogel einen Posten bei einer Filiale der Länderbank. Danach war er kurzzeitig Sekretär des Präsidenten der jüdischen Kultusgemeinde, studierte Jura und wurde Verwaltungsjurist bei der Stadt Wien. Die Hakoah hatte ihr Sekretariat im selben Haus wie die Kultusgemeinde. Der erste Hakoah-Sekretär, Armin Jungmann, kam im Jahr 1946 mit den Worten zu ihm: „Martin, du warst doch ein Leichtathlet! Stell doch die Leichathletiksektion auf!“ Dies tat er dann auch. Die alten Funktionäre der Hakoah waren fast alle begeisterte Fußballspieler. Die Schwimmer jedoch waren auch sehr bekannt. So begann das Clubleben. Die Schwimmer hatten das Dianabad oder das Stadionbad zum Training und für Wettkämpfe zur Verfügung. Viele kamen dann aus den KZs und aus dem Untergrund zurück und es begann ein sportlich aktives Leben. Die Hakoah waren eine Einheit, „wie eine immerwachsende Familie. Diese Zusammengehörigkeit hat uns auch den Übergang zur Normalität erleichtert“. Viele betrachteten aber den Aufenthalt in Wien nur als Übergangslösung und wanderten aus. Das hatte verheerende Auswirkungen, vor allem auf die Leichtathletiksektion. Sie bestand nicht einmal zehn Jahre lang. Martin stellte dann mit dem Rest der Aktiven die Handballsektion auf, welche sich wacker schlug. Mit der Zeit meldeten sich bei der Hakoah auch Nicht-Juden, die einfach nur Sport treiben wollten. Zum Schluss wurden die Aktiven aber immer weniger. Das Handballteam der Hakoah hatte schließlich nur noch sieben Spieler; die Hälfte davon war nicht-jüdisch. 1971/72 lösten sich die Handballer auf. Martin Vogels schönstes Sporterlebnis aber war die Teilnahme an der 3. Makkabiade 1950 in Tel Aviv.

Interview und Text: Peter Zinke