Zentrum der jüdischen Orthodoxie in Niederbayern
Zwischen 1946 und 1949 befand sich am Rande der niederbayerischen Kleinstadt Pocking das (nach Bergen-Belsen) zweitgrößte jüdische DP-Camp im Nachkriegsdeutschland und das größte in der US-amerikanischen Zone. Zeitweise über 8.000 Bewohner fanden Platz auf dem Gelände eines in den 1930er Jahren errichteten Fliegerhorsts. Neben dem Flugplatz und den Hangars waren dort rund 200 Baracken entstanden, die unter anderem eine Luftnachrichtenschule nutzte. Ab März 1945 war eine Außenstelle des Konzentrationslagers Flossenbürg an das Gelände angeschlossen. Hier wurden hunderte von Häftlingen untergebracht und für Bauarbeiten eingesetzt. Ein Großteil überlebte die Lebensbedingungen nicht.
Nach der Befreiung durch die US-Army am 2. Mai 1945 blieben einige jüdische Überlebende des Außenlagers in Pocking und gründeten eine selbstverwaltete DP-Gemeinde, die rasch anwuchs (Höchststand im Dezember 1945: knapp 200 Personen). Die Mitglieder wohnten verteilt in der Stadt in zum Teil beschlagnahmten Wohnungen und Häusern. Durch Abwanderung in größere Städte oder Emigration – vor allem seit Gründung des Staates Israel 1948 – sank die Mitgliederzahl seit Jahresbeginn 1946 jedoch beständig. 1949 löste sich die jüdische Gemeinde mit dem Wegzug der letzten knapp 70 Einwohner auf.
Parallel zur DP-Gemeinde Pocking entstand ab Januar 1946 auf dem Gelände des ehemaligen KZ-Außenlagers das DP-Camp Pocking-Waldstadt. Die ersten 500 Bewohner, strenggläubige Lubawitscher Chassidim mit ihrem Rabbiner, strandeten auf ihrem Weg aus der Sowjetunion in Pocking und siedelten sich, unterstützt durch die US-Army, in den leerstehenden Baracken an. Wie viele andere Überlebende der Shoa aus Osteuropa waren sie auf der Flucht vor antisemitischen Übergriffen in ihren Heimatländern. In den folgenden Monaten erreichten immer mehr sogenannte infiltrees das jüdische Assembly Center. Im Juli 1946 lebten in den ehemaligen Baracken bereits über 5.000 Menschen – anfangs unter gerade hygienisch sehr schwierigen Bedingungen.
Unterstützt von UNRRA und Joint etablierten die Bewohner im von Beginn an selbstverwalteten Lager nicht nur eine gut organisierte Lagerpolizei und Feuerwehr. Bald kamen auch ein Spital, eine Bücherei, ein Theater und andere Freizeiteinrichtungen – darunter mit Hagibor und Hapoel zwei Fußballvereine hinzu. Insbesondere entstanden dort alle Institutionen, die den überwiegend strenggläubigen jüdischen Bewohnern ein traditionelles religiöses Leben ermöglichten. Insgesamt gab es vier Synagogen, eine Mikwe, zwei Cheder (Talmud-Thora-Schulen) und Jeschiwot (Lubawitscher und Klausenburger) und eine Jawne-Schule. Die Kinder wurden in einem Kindergarten versorgt oder lernten in der jüdischen Volksschule des Camps; zusätzlich zum Spital kümmerte sich der Krankenversorgungsdienst Bikur-Cholim um die Patienten, während eine große koschere Küche die Verpflegung des Camps übernahm.
Das Lager Pocking-Waldstadt entwickelte sich damit zu einem Zentrum der jüdischen Orthodoxie, in dem die durch die Shoa weitgehend zerstörte Lebenswelt der osteuropäischen Juden wieder auflebte. Darüber hinaus verfolgte das DP-Lager den Aufbau einer neuen jüdischen Zukunft in Israel mit für diesen Zweck gut ausgebildeten Menschen. Ein Beispiel dafür ist die hebräische Volksschule, die Anfang Februar 1946 mit zunächst drei Klassen, fünf Lehrern und 47 Kindern den Betrieb aufnahm. Bereits im Juni war sie auf 18 Lehrer und 450 Kinder in 15 Klassen angewachsen. Ab der dritten Klasse wurde Hebräisch unterrichtet, um dadurch auch Kindern ohne Vorbildung schnell fundierte Kenntnisse dieser Sprache zu vermitteln. Die Lehrkräfte wiederum konnten sich in Kursen pädagogisch weiterbilden. Eine Fachschule der World ORT Union ergänzte ab März 1946 das Bildungsangebot mit Ausbildungskursen für u. a. Schneider, Weber, Schlosser, Tischler, Radiotechniker oder Automechaniker. Auch politische Veranstaltungen fanden im Camp statt, wie im Juli 1947 die erste Landeskonferenz der zionistisch-sozialistischen Bewegung Poalei-Zion (Arbeiter Zions).
Seit Ende 1947 verringerte sich die Bewohnerzahl im Camp kontinuierlich. Auch die wenigen nicht ausgewanderten jüdischen Bewohner verließen das Lager, um in andere Städte zu ziehen. Schließlich wurde das Lager im Laufe des Jahres 1949 aufgelöst.
Die Geschichte des DP-Camp in Pocking wurde bislang nicht wissenschaftlich aufgearbeitet. Wir sichten aktuell Dokumente aus dem Instituts-Archiv, Unterlagen aus dem YIVO-Institut, Dokumente aus dem Joint und dem UN Archiv sowie weitere Bestände. Nach der Auswertung ist bei ausreichender Quellenlage eine wissenschaftliche Veröffentlichung geplant.