Autonome jüdische Zentren in Wasserburg am Inn
Die Geschichte der jüdischen DPs in Wasserburg ist bis heute kaum bekannt: Zwischen 1946 und 1950 wurde die kleine mittelalterliche Stadt zum Zufluchtsort für ein paar Tausend Überlebende der Shoa aus Polen, Ungarn, Rumänien und der Tschechoslowakei. Das Kloster Attel und die ehemalige Heil- und Pflege-Anstalt Gabersee verwandelten sich für einige Jahre in jüdische Enklaven.
Die Lager unterstanden zwar offiziell der Verwaltung der UN-Hilfsorganisation United Nations Relief and Rehabilitations Administration (UNRRA), doch erlaubte die US-Militärregierung den Bewohnern eine weitgehende Autonomie. Jedes Jahr wählten die DPs ihre Selbstverwaltung.
Die Administration war ähnlich, wie eine Gemeinde organisiert. Der Komitee-Vorsitzende übte quasi das Amt eines Bürgermeisters aus, dem zahlreiche Fachreferenten etwa für Arbeit, Kultur, Soziales, Religion oder Medizin zur Seite standen.
In Gabersee lebten zeitweise bis zu 2.000 Juden, davon rund 250 Kinder und Jugendliche, für die eine eigene Volksschule, ein Kindergarten sowie eine Berufsschule eröffnet wurde. Auch die Erwachsenen hatten die Möglichkeit, einen Beruf zu erlernen, etwas als Schneider, Schuhmacher, Friseur, Schreiner oder Schlosser. Darüber hinaus wurden Sprachkurse für Hebräisch und Englisch angeboten. Die Gläubigen konnten endlich wieder nach den Gesetzen ihrer lange Zeit verbotenen Religion leben: Der Lagerrabbiner sorgte dafür, dass eine Synagoge, eine Jeschiwa (Jüdische Religionshochschule), eine Mikwe (Ritualbad) und eine Koschere Küche eingerichtet wurde.
Die Freizeit verbrachten die DPs in der lagereigenen Bibliothek oder im Sportverein, wo Boxen, Tischtennis und Fußball angeboten wurde. Das Team von Hakaoch Gabersee kickte sogar in der 1. Jüdischen Fußball-Liga in der US-Zone. Im Kampf um die Meisterschaft blieb die Elf aus Gabersee allerdings zunächst ohne Chance. Dafür begann die Saison 1948 erfolgreicher: kurzzeitig belegte die Mannschaft sogar den 2. Tabellenplatz.
Auch im Kloster Attel kam es zur Eröffnung einer jüdischen Volksschule. Da hier nur zwischen 300 und 400 jüdische DPs lebten, nutzten die Bewohner offensichtlich das breite bildungspolitische und soziale Angebot von Gabersee mit. Allerdings gründeten auch hier die DPs mit Makabi Attel einen jüdischen Sportverein. Ihre Fußballmannschaft spielte in der 2. Liga, im Bezirk München, etwa mit dem Jidiszer Sportklub Altötting, Makabi Starnberg, Bar Kochba Ainring und Hapoel Bad Reichenhall.
Dieses fesselnde Kapitel der deutschen Regionalgeschichte ist weder dem öffentlichen Bewusstsein gegenwärtig, noch steht es im Fokus der Medien oder wurde bisher erforscht. In den Geschichtsbüchern, Heimatzeitschriften und örtlichen Chroniken sind die beide „Wartesäle“ der Shoa-Überlebenden mit ihrer weitgehenden politischen und kulturellen Autonomie bislang nicht thematisiert.
Daher haben wir, in Kooperation mit dem Stadtarchiv Wasserburg, die Geschichte der beiden Wasserburger Camps recherchiert und die Ergebnisse anschließend in einer Publikation veröffentlicht. Leider verfügen die deutschen Archive kaum über Unterlagen zu diesem Themenbereich. Aussagekräftige Akten der Selbstverwaltung, Berichte der Hilfsorganisationen, Statistiken und historische Fotografien finden sich jedoch in den Archiven des American Jewish Joint Distribution Committee, des YIVO Institute for Jewish Research (New York), des United States Holocaust Memorial Museum (Washington DC) oder im Beth Lochamei Haghetaot (Israel). Diese Unterlagen geben einen tiefen Einblick in das facettenreiche Alltagsleben der Shoa-Überlebenden.
Über die beiden Camps ist im Auftrag des Nürnberger Instituts für NS-Forschung und jüdische Geschichte des 20. Jahrhunderts und der Stadt Wasserburg das Buch von Jim G. Tobias und Nicole Grom Gabersee und Attel: Wartesäle zur Emigration. Die jüdischen Displaced Persons Camps in Wasserburg 1946–50 im Mai 2016 erschienen.
Das Projekt wurde von der Stadt gefördert.
Wir konnten folgende Organisationen als Unterstützer gewinnen:
- Umwelt-, Kultur- und Sozialstiftung im Landkreis Rosenheim
- Heimatverein für Wasserburg am Inn und Umgebung (Historischer Verein)
Die Recherchereise in internationale Archive wurde mit freundlicher Unterstützung der Wasserburger Molkereien Bauer und MEGGLE sowie durch den Erlös eines Benefiz-Konzerts der Klesmergruppe Mesinke ermöglicht.