Im Rahmen eines Forschungsprojektes recherchiert das Nürnberger Institut für NS-Forschung die Entstehungsgeschichte sowie den Verbleib der sogenannten Stürmer-Bibliothek, die der Herausgeber des antisemitischen Hetzblatts „Der Stürmer“, NSDAP-Gauleiter Julius Streicher, in ganz Europa vornehmlich aus jüdischem Besitz zusammengeraubt hatte. Bei Nachforschungen in diversen israelischen und amerikanischen Archiven konnten dabei unbekannte Dokumente der damaligen US-Besatzungsbehörden sowie jüdischer Interessenverbände eingesehen werden.
Nach der Niederschlagung des NS-Regimes entdeckten US-Soldaten im Redaktionsbüro des „Stürmers“ sowie auf Julius Streichers Bauernhof rund 15.000 Exemplare von geraubten Büchern. Die Sammlung wurde im Sommer 1945 von einem Mitarbeiter der US Spezialabteilung für Raubkunst MFA&A (Monuments, Fine Arts, and Archives) der Stadtbibliothek Nürnberg anvertraut – „as a possession and not as a trust, and the Library is therefore free to do with them what it pleases“. Bibliotheksleiter Bock bot die Bände dem Sekretär der neugegründeten Israelitischen Kultusgemeinde (IKG) Bernhard Kolb an. Da angesichts der Shoa für die überwiegende Mehrheit der Juden eine Zukunft in Deutschland unvorstellbar war, wollte der IKG-Vertreter die Sammlung nicht und übergab sie an Prof. Koppel S. Pinson, dem „Educational Director“ der jüdisch-amerikanischen Hilfsorganisation AJDC. Pinson beabsichtigte, die Bibliothek in die USA überstellen zu lassen. Dieses Vorhaben stieß allerdings beim „Zentralkomitee der befreiten Juden“ auf Ablehnung. Die Interessenvertretung der Holocaust-Überlebenden plädierte dafür, die Schriften nach Palästina zu bringen.
Dokumentiert ist lediglich, dass Mitte August 1946 einige tausend Bände der „Stürmer-Bibliothek“ zunächst ins Offenbach Archival Depot, einem Zentrallager der US-Armee für NS-Raubgut, überstellt wurden. Vier Jahre später bot die Jewish Cultural Reconstruction Agency diese etwa 6.000 Bände verschiedenen jüdischen Instituten in den USA an. Der Rest der Sammlung blieb in Nürnberg.
Seit über Jahrzehnten befinden sich etwa 9.000 Schriften – nunmehr „Sammlung IKG“ genannt – im Bestand der Stadtbibliothek Nürnberg. Nach Erklärung des 2013 verstorbenen Vorsitzenden der Israelitischen Kultusgemeinde, Arno Hamburger, sollen die Amerikaner nämlich im Juni 1945 die „Stürmer-Bibliothek“ der IKG Nürnberg übereignet haben. Ein solches Vorgehen ist jedoch weder auf Grund der Quellenlage noch des seinerzeit gebräuchlichen Umgangs mit NS-Raubgut zu interpretieren. Dennoch unterzeichneten die Stadt Nürnberg und die IKG Nürnberg 58 Jahre später, im Januar 2003, einen Vertrag. In dieser – unter Verschluss – gehaltenen Abmachung erkannte die Stadt die IKG als die Eigentümerin der aus geraubten Büchern bestehenden Sammlung „Stürmer-Bibliothek“ an. Was genau vereinbart wurde bleibt allerdings im Dunkeln: „Es besteht ein berechtigtes Interesse, den Inhalt des Vertrages nicht öffentlich zugänglich zu machen“, erklärte die Stadtbibliothek auf Anfrage.
Im Zusammenhang mit einer Ausstellung hatte die städtische Bibliothek 1997 mit der Katalogisierung der Bücher begonnen. Dabei stellte sich nach und nach heraus, dass über 3.000 Schriften aus der „Stürmer-Bibliothek“ mit Besitzeinträgen oder Exlibris gekennzeichnet sind. Obwohl der Deutsche Städtetag seine Mitglieder im April 2001 aufgefordert hatte, nach legitimen Eigentümern von NS-Raubgut zu suchen, wurde die Stadt Nürnberg lange Zeit nicht aktiv. Erst nachdem Mitarbeiter des Nürnberger Instituts für NS-Forschung einige der rechtmäßigen Eigentümer ermitteln konnten, sah sich die Stadt Nürnberg in den Jahren 2002 und 2003 veranlasst, einige Bücher zu restituieren.
Im Januar 2008 veröffentlichte die Stadtbibliothek 115 Namen jüdischer Bürger, denen die Nazis Bücher geraubt hatten. Ziel dieser Liste ist es, diesen Menschen ihr Eigentum zurückzugeben. Nach rund zehn Jahren „mühevoller Katalogisierung“ sollen nunmehr zwei Drittel der „Stürmer-Bibliothek“ erfasst sein. Darunter befinden sich alle etwa 3.500 mit Herkunftsangaben versehenen Schriften. Diese Bücher sind im Internet-Katalog der Stadtbibliothek Nürnberg recherchierbar.
Während die in Nürnberg verbliebenen Bücher der „Stürmer-Bibliothek“ lange Zeit unbeachtet blieben und kaum zugänglich waren, standen die in die USA verbrachten Bände, darunter wertvolle Hebraica und Judaica, seit Anfang der 1950er Jahre in verschiedenen jüdischen Bibliotheken und Instituten für Forschung und Lehre zur Verfügung.
Bereits 2004 ist ein wissenschaftlicher Aufsatz Die „Stürmer-Bibliothek“ – Vom Umgang mit geraubten Büchern in unserem Institutsjahrbuch nurinst 2004 erschienen. Auf einer wissenschaftlichen Tagung der Jüdischen Hochschule Heidelberg stellten wir unsere letzten Recherchen vor.
Der für den Druck überarbeitete Vortrag Die Stürmer-Bibliothek und die Eigentumsfrage nach 1945 ist in dem Tagungsband Ersessene Kunst. Der Fall Gurlitt unter dem selbigen Titel (Seiten 153-164) in 2015 erschienen.